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Wurzeln (Teil 3)

Wurzeln (Teil 3)

 

Sprachwurzeln

Verwurzelungen geschehen größtenteils unbewusst. Niemand sucht sich aus, in welche Familie, welche Nation, welche Kultur er hineingeboren wird. Auch die Muttersprache sucht sich niemand aus. Nur sind heute die Rahmenbedingungen nicht mehr so eindeutig und klar. In der Diaspora und in den Mischehen kann es da durchaus sein, dass die Sprachverwurzelung keineswegs nur mehr in der Sprache der leiblichen Mutter geschieht, je nachdem, welche Sprache die Mutter im Alltag selbst benutzt, welche sprachlichen Einflüsse prägend sind und schließlich auch, zu welcher Sprache ein Kind selbst tendiert. Aber auch solche Neigungen geschehen nicht zufällig, sondern hängen mit dem häuslichen und familiären Umfeld, dem Freundeskreis und der Schule zusammen und sind ein Indiz für die Sozialisation bzw. gegebenenfalls auch für Probleme bei dieser.

Keiner sollte die Sprachverwurzelung unterschätzen oder für ein unbeeinflussbares Schicksal halten, vielmehr sind in erster Linie die Eltern selbst dafür verantwortlich, und zwar nicht nur für die Sprachfähigkeit, sondern auch für das Lebensgefühl, das sich mit der jeweiligen Sprache verbindet. Die Kriterien der Verwurzelung sollten aber nicht zu eng gezogen sein und zeigen sich nicht alleine in der Sprache. Auch jemand, der nicht perfekt in der Sprache ist, kann das Volk und seine Kultur sehr lieben und ein echter Patriot sein. Umgekehrt kann auch jemand sein Volk trotz perfekter Sprache verachten und hassen. Solch ein Eindruck kann sich aufdrängen, wenn griechische Politiker reden, griechische Arbeitgeber unter Ausnutzung der Krise Hungerlöhne zahlen oder griechische Millionäre keine Steuern mehr in der Heimat zahlen, weil sie die steuertechnisch längst verlassen haben.

Mit Nüchternheit und Realismus sollte die Frage der Verwurzelung in Sprache und Kultur betrachtet werden. Leicht neigt man dazu, das Thema ideologisch oder gar nationalistisch anzugehen und zu werten. Und leicht werden die Kinder heute mit falschen Erwartungen überfordert: Kinder, die in dritter Generation in Deutschland leben, die in Dörfern und Ortschaften ohne starke griechische Präsenz wohnen, die keinen muttersprachlichen Unterricht erreichen, die in Mischehen aufwachsen, deren Eltern auch schon aus Mischehen stammen. Dabei sollte man jede Mischung und auch jede Mehrsprachigkeit als Gewinn ansehen und nicht eins gegen das andere ausspielen.

Wahrscheinlich und hoffentlich lieben alle Kinder das Land ihrer Sommerurlaube, der Großeltern und Verwandten, das wunderschöne Griechenland. Und hoffentlich versuchen sie auch, die griechische Sprache zu sprechen beim Spielen mit den Nachbarkindern, mit den Cousinen und Cousins und auch mit Giagia und Papou. Wenn sich dann die Kontakte durch Facebook und andere social communities fortsetzen und wenn sie auch von der griechischen Popmusik begeistert sind, die sie auf YouTube hören, wird das Lernen spielerisch und erscheint für die Kinder sinnvoll.

Die eigene Heimatliebe, die eigenen griechischen Wurzeln, die eigene Sprachkenntnis übertragen sich nicht genetisch auf die nächste Generation. Darum muss sich jeder kümmern. Das kann eine echte Herausforderung sein und das sollte auch jeder als eine solche verstehen, weil es sowohl um die Wurzeln als auch die Zukunft der Kinder geht.

Glaubenswurzeln

Auch die Kirche und der christliche orthodoxe Glaube haben ihre Verwurzelung in der Sprache. Freilich kann, darf und muss die Orthodoxie in jeder Sprache leben, doch die griechische Kirche bewahrt ein besonderes Erbe und einen wertvollen Schatz, da sie den Reichtum der Hymnen und Gebete, aber auch der Väterschriften und Konzilien, und vor allem der Heiligen Schrift im Original hat. In den griechischen Gottesdiensten wird nicht nur ein Stückchen der verlassenen oder verlorenen alten Heimat lebendig, sondern das ganze reiche Erbe der Orthodoxie. Vielleicht werden irgendwann auch in Deutschland die Verhältnisse vergleichbar mit Amerika sein, wo die führende Sprache sogar in der Kirche das Englische geworden ist. Aber in den griechischen Gemeinden Deutschlands wird die Orthodoxie als griechische noch lange lebendig sein. Das sind wir unserer Tradition aber auch unseren Kindern schuldig.

Wem an der griechischen Verwurzelung der Kinder liegt, kommt gar nicht an der Kirche vorbei. Wo trifft man die weit verstreut lebenden Griechen, wo hört man die griechische Sprache, wo erlebt man den griechisch orthodoxen Glauben? Für die Leser und Zelebranten bedeutet das freilich auch eine große Verantwortung. Sie sollten sich Mühe geben, schön zu singen, deutlich zu sprechen und verständlich zu lesen. Vermutlich hört bei einer übertrieben gesungenen Apostellesung niemand konzentriert zu und weiß nachher nicht einmal, aus welchem Brief soeben vorgesungen wurde. Es ist erschreckend, wenn bei einer Umfrage unter Kindern herauskommt, dass sie mit Gottesdienst nur leere Floskeln und „Kyrie eleison“ verbinden. Zur fruchtbaren Katechese gehört aber auch nicht nur das Angebot der Pfarrei, sondern auch das Interesse und die Teilnahme der Kinder sowie die Bereitschaft der Eltern, die Kinder zu bringen und die religiöse Bildung zu unterstützen und nicht zuletzt die Förderung der griechischen Sprache, um den Gottesdiensten besser folgen zu können.

Das bedeutet keineswegs einen Rückzug in ein kleines griechisches Kirchenghetto, denn die Katechese, manche Predigt und vor allem die fröhlichen Feste der Taufen und Hochzeiten mit vielen Gästen aus Griechenland, aus Deutschland, aus der Verwandtschaft und der Nachbarschaft, aus dem Freundeskreis und den Arbeitskollegen erfordern die Zweisprachigkeit der Gottesdienste, vor allem wenn die liturgischen Texte nicht sehr geläufig sind. Aber die Schönheit einer griechischen Göttlichen Liturgie und die erhebende Atmosphäre des von den Vätern ererbten Gebetes hat einen eigenen Wert. So viele Deutsche pilgern auf den Athos und lassen sich von den Gottesdiensten anziehen und anrühren, obwohl sie kein Wort verstehen. Wie viel mehr sollte sich ein griechisch orthodoxer Gläubige darum bemühen, sich wenigstens ein wenig im Gottesdienst zurechtzufinden und mitzubeten, auch wenn er nicht alles ins Neugriechische oder Deutsche übersetzen könnte.

Verwurzelungen, Entwurzelung, Einwurzelung, Neue Wurzeln

Griechische Verwurzelung war für die vor drei Generationen und für die heute nach Deutschland kommenden Griechen eine Selbstverständlichkeit. Die aus der Not und der Krise entstandene Entwurzelung hat zu einer Einwurzelung in Deutschland geführt, deren Ergebnis wir heute in der jungen Generation beobachten können. Sollen die Kinder heute aber nicht nur deutsche Wurzeln bilden und sich in Deutschland verwurzelt fühlen, müssen die griechischen Wurzeln weiterhin lebendig gehalten, gepflegt und gefördert werden. Das geschieht heute nicht mehr so leicht wie früher im Familienverband und in den Schulen, aber wenn die Einwurzelung im orthodoxen Glauben und die Verwurzelung in den griechischen Pfarreien geschieht, wird das Griechentum auch in der Diaspora nicht verloren gehen.

 

Überlegungen von p. Martinos Petzolt

Wurzeln